Im Jahr 2023 kommen nach Angaben der Vereinten Nationen 41.000 Migranten über den Seeweg nach Griechenland. Sobald sie europäischen Boden betreten, werden sie in Aufnahmezentren untergebracht. Dort warten sie auf die Bearbeitung ihres Asylantrags.
Allerdings wird Griechenland vorgeworfen, sogenannte „Pushbacks“ durchzuführen, also einen Teil der Migranten daran zu hindern, den EU-Raum zu betreten. Trotz zahlreicher Investigativrecherchen von Seiten der Medien, NGOs oder europäischen und internationalen Institutionen schweigt Griechenland weiterhin gegenüber diesen Vorwürfen oder streitet sie ab. Der griechische Minister für Migration und Asyl sprach sogar von „Fake News“. Er unterstellte der türkischen Küstenwache sowie NGOs, Bilder manipuliert zu haben.
Die Bilder der türkischen Grenzschützer
Wir haben mit unseren Recherchen auf türkischer Seite angefangen: Auf der Website der türkischen Küstenwache kann man die Anzahl der Seenotrettungseinsätze nachlesen. Von März 2020 bis Mai 2024 sind hier 1.200 Pushbacks an Bord von Rettungsinseln aufgeführt. Für jeden Einsatz stellen die türkischen Grenzschützer eine Akte zur Verfügung. Die darin enthaltenen Unterlagen bestehen jeweils aus Fotos, einem Video des Rettungseinsatzes und einem Bericht, in dem die geographische Zone und die Personenzahl angegeben sind.
Wir haben die 1.200 Akten heruntergeladen und gesichtet. Wir haben alle darin enthaltenen Bilder analysiert. Wir haben ein Dokument mit den jeweiligen Einsatzbedingungen erstellt: wie viele Kinder, Nacht- oder Tageszeit. Wir haben außerdem notiert, um welche Art von Rettungsinsel es sich jeweils handelte und in welchem Zustand sich diese befand (Überfrachtung, unzureichende Befüllung der Luftkammern, Risse oder Löcher in der Zeltplane, etc.).
Bei der Sichtung der Akten konnten wir feststellen, dass sich alle Bilder und Einsatzberichte unterscheiden. Die 1.200 Fälle enthalten also unserer Kenntnis nach keine Doppelungen, die auf eine mögliche Aufblähung der Zahlen von Seiten der türkischen Küstenwache hindeuten könnten.
Überprüfung durch Forensic Architecture
Darüber hinaus haben wir uns auf eine von Forensic Architecture zur Verfügung gestellte Datenbank gestützt. Dieses an der Universität London beheimatete Recherchekollektiv analysiert die Bilder der türkischen Küstenwache und stuft sie entweder als „verifiziert“ oder als „dokumentiert“ ein. In die Kategorie „verifiziert“ kommen diejenigen Bilder, die abgeglichen werden konnten: entweder mit von Migranten aufgenommenen Fotografien oder mit Berichten von NGOs oder journalistischen Recherchen.
Aegean Boat Report
Auch in Sozialen Netzwerken berichten NGOs von Pushback-Aktionen. Dazu zählt insbesondere die norwegische Organisation Aegean Boat Report (ABR). ABR wurde 2018 gegründet und erhält quasi täglich Fotos und Videos von Geflüchteten, die sich im Ägais-Raum in Seenot befinden. Der Gründer von ABR Tommy Olsen hat uns in einem persönlichen Gespräch berichtet, dass er bei jedem Kontakt mit Migranten ihren Live-Standort überprüft, mithilfe der kostenfreien Funktion von Whatsapp. Auf diese Weise hat er Kenntnis über den unmittelbaren Aufenthaltsort. ABR veröffentlicht monatlich Statistiken über die Anzahl von zurückgewiesenen Migranten. Auf der ABR-Website sind außerdem zahlreiche Hintergrundinformationen zu Abschiebungen im Ägäis-Raum aufgeschlüsselt.
Die Organisation ist nicht vor Ort; des Weiteren befindet sich kein einziges Seefahrzeug auf den Gewässern zwischen Griechenland und der Türkei, das mit den Rettungsschiffen im zentralen Mittelmeerraum vergleichbar wäre.
Schiffbrüchige oder auf einer Insel festsitzende Migranten haben also keine andere Wahl, als sich an die Rettungskräfte des Landes zu wenden, auf dessen Hoheitsgebiet sie sich befinden.
Mary Lawlor, UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte, äußerte sich im Mai 2024 in einem Tweet besorgt über den von Griechenland ausgestellten Haftbefehl gegen ABR-Gründer Tommy Olsen: „Er ist das Opfer scheinbar willkürlicher Ermittlungen, die seine Arbeit für die Rechte von Migranten kriminalisieren.“
Alarm Phone, eine andere Organisation mit vergleichbarer Arbeitsweise, informierte auf X über Boote, die Pushback-Aktionen zum Opfer gefallen sein sollen.
Diese beiden Organisationen haben uns im Ägäis-Raum aufgenommene Fotos und Videos zugespielt, die wir selbst verifizieren konnten.
Überprüfung des Pushbacks vom 23. Februar
Im Rahmen unserer Recherchen haben wir uns für einen Pushback interessiert, der sich am 23. Februar 2024 zugetragen hat. Auf zwei Videos sind Migranten auf einer griechischen Insel zu sehen. Mehrere Elemente bestätigen, dass es sich tatsächlich um die Insel Farmakonisi handelt:
- Die Migranten geben im Video diese Position an.
- Die Angaben stammen mit den von ihnen an Aegean Boat Report gesendeten GPS-Koordinaten überein.
- Die Umgebung auf Google Earth entspricht den Angaben – allerdings gibt es keine spezifischen Elemente, die eine präzise Geolokalisierung ermöglichen: Man sieht im Video beispielsweise keine Gebäude oder klar erkennbare Bergkämme.
- Das Video zeigt ein sich näherndes Schiff der griechischen Küstenwache. Die Migranten befinden sich also definitiv auf griechischem Hoheitsgebiet.
- Aegean Boat Report gibt an, um 08:30 Uhr über die Präsenz der Migrantengruppe auf der Insel Farmakonisi informiert worden zu sein. Mit Hilfe der App Sun Calc haben wir den Einfall der Sonnenstrahlen um 08:30 Uhr an den von den Migranten angegeben GPS-Koordinaten überprüft. Die Angaben von Sun Calc stimmen mit dem Sonnenstand und den sichtbaren Schattenverhältnissen auf den Bildern der Migranten überein.
- Die Gruppe wurde am selben Tag von der türkischen Küstenwache aufgegriffen, als sie auf dem Meer trieb. Auf den Videobildern des türkischen Rettungseinsatzes sind mehrere Personen, die sich auf der griechischen Insel befunden haben, eindeutig erkennbar.
Wir haben über mehrere Wochen hinweg versucht, Kontakt mit den Migranten herzustellen, jedoch ohne Erfolg.
Die Überprüfung des Zeugenberichts von Ahmed
In unserem Beitrag berichtet der syrische Migrant Ahmed von seiner Zurückweisung im September 2023. Um seine Aussagen zu überprüfen, haben wir mehrere der von ihm aufgeführten Informationen gekreuzt:
Bei seiner Rückkehr in die Türkei wurde er für zehn Tage in einer türkischen Haftanstalt interniert. Er hat uns ein auf den Tag seiner Entlassung datiertes Dokument vorgelegt.
Er hat angegeben, dass die Rettungsaktion nachts durchgeführt wurde und dass sich mehr als zwanzig Personen an Bord befunden haben.
Er hat angegeben, aus der türkischen Provinz Izmir / Çeşme aufgebrochen zu sein.
Auf Grundlage dieser Angaben haben wir einen Einsatzbericht der türkischen Küstenwache mit Datum des 29. Septembers 2023 ausfindig gemacht. Wir haben ihm das dazugehörige Video geschickt und er hat uns bestätigt, dass es sich um ein- und denselben Rettungseinsatz handelt: Er hat sich auf den Bildern erkannt und konnte zwei Familienmitglieder, die sich mit ihm auf der Rettungsinsel befunden haben, identifizieren.
Mehrere Berichte von internationalen Organisationen sowie von den Vereinten Nationen stimmen mit seiner Erzählung überein.
Die Frage nach der Herkunft der Rettungsinseln
Griechenland streitet weiterhin ab, Pushbacks durchzuführen. Das macht es sehr schwierig, Informationen über die Herkunft der verwendeten Rettungsinseln zu erlangen. Wir haben nur eine einzige öffentliche Ausschreibung gefunden, die den Kauf von Rettungsinseln für die griechische Küstenwache erwähnt. Die Ausschreibung geht zurück auf das Jahr 2016 und führte zum Kauf von Rettungsinseln des griechischen Herstellers Lalizas mit EU-Geldern.
Das deutsche Magazin Der Spiegel hatte schon 2021 über diese Ausschreibung berichtet. Auch Human Rights Watch hatte Lalizas ab dem Jahr 2020 zur zweckentfremdeten Verwendung der Rettungsinseln befragt – die NGO gibt an, dass Lalizas damals nicht auf ihre Anfrage geantwortet hat.
Die griechische Küstenwache verwendet aber auch noch andere Rettungsinseln. Ab dem Jahr 2021 kommt wiederholt ein Modell ohne orangefarbene Plane zum Einsatz. Wir haben mehrere Fachleute befragt, die allesamt davon ausgehen, dass die Abwesenheit der orangenen Zeltplane höchstwahrscheinlich dazu dient, die Herkunft zu kaschieren.
Wir haben die Bilder über mehrere Wochen hinweg verglichen und uns mit Fachleuten ausgetauscht. Nur die Rettungsinseln des chinesischen Herstellers Shanghai Youlong Rubber Products weisen durchgehend eine Ähnlichkeit auf. Wir haben die Firma mehrmals angerufen und ihr mehrere E-Mails auf Französisch und auf Chinesisch geschrieben. Das Unternehmen hat uns bestätigt, zahlreiche Kunden in Griechenland zu haben, aber wollte nicht auf unsere Fragen eingehen.
In Griechenland haben wir unzählige Lieferanten und Verkäufer von Produkten der Firma Shanghai Youlong Rubber Products kontaktiert. Keines der Unternehmen wollte uns Auskunft über die Herkunft der Rettungsinseln geben, die die griechische Küstenwache verwendet.
Weiterführende Artikel:
Zur rechtlichen Frage von Pushbacks:
Es gibt keine international anerkannte Definition von Pushbacks von Migranten. Der UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Migranten beschreibt Pushbacks als „verschiedene Maßnahmen von Staaten, die zur Folge haben, dass Migranten, einschließlich Asylbewerbern, unangekündigt und zwangsweise in das Land zurückgeführt werden, von dem aus sie versucht haben, eine internationale Grenze zu überqueren, oder von dem aus sie eine internationale Grenze überquert haben, ohne dass ihnen Zugang zu internationalem Schutz oder Asylverfahren gewährt wird oder ohne dass ihr Schutzbedarf individuell geprüft wird, was zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung führen kann.“ Siehe: https://www.ohchr.org/en/special-procedures/sr-migrants/report-means-address-human-rights-impact-pushbacks-migrants-land-and-sea
Anmerkungen zu Pushbacks und europäischem Recht: https://home-affairs.ec.europa.eu/networks/european-migration-network-emn/emn-asylum-and-migration-glossary/glossary/push-back_en
Addressing pushbacks at the EU's external borders (European Parliamentary Research Service, Oktober 2022): https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2022/738191/EPRS_BRI(2022)738191_EN.pdf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Vermerk zu kollektiven Zwangsräumungen (April 2024): https://www.echr.coe.int/documents/d/echr/FS_Collective_expulsions_ENG
Über Frontex:
● Bericht der EU-Antikorruptionsbehörde OLAF über Frontex: https://fragdenstaat.de/dokumente/233972-olaf-final-report-on-frontex/
● Pressemitteilung der französischen Liga für Menschenrecht (Ligue des droits de l’Homme) und Utopia 56 zur Klage gegen Fabrice Leggeri: https://www.ldh-france.org/fabrice-leggeri-ancien-directeur-de-frontex-poursuivi-pour-complicite-de-crimes-contre-lhumanite-et-de-torture/
● Pressure Growing on Frontex Chief from Pushbacks Investigation (Spiegel International, März 2022): https://www.spiegel.de/international/europe/we-have-a-lot-of-evidence-pressure-growing-on-frontex-chief-from-pushbacks-investigation-a-047934ed-5f94-44c8-8474-df974644f002
● Bericht des Europäischen Parlaments – 2021: https://www.europarl.europa.eu/cmsdata/238156/14072021%20Final%20Report%20FSWG_en.pdf
Berichte über Pushbacks in Griechenland:
● "Their Faces Were Covered" Greece’s Use of Migrants as Police Auxiliaries in Pushbacks (Human Rights Watch, April 2022): https://www.hrw.org/report/2022/04/07/their-faces-were-covered/greeces-use-migrants-police-auxiliaries-pushbacks
● Greece report 2023 (Human Rights Watch): https://www.hrw.org/world-report/2023/country-chapters/greece
● Greece: Pushbacks and violence against refugees and migrants are de facto border policy (Amnesty International, Juni 2023): https://www.amnesty.org/en/latest/press-release/2021/06/greece-pushbacks-and-violence-against-refugees-and-migrants-are-de-facto-border-policy/
● Greece: Investigate Pushbacks, Violence at Borders (Human Rights Watch, Oktober 2020): https://www.hrw.org/news/2020/10/06/greece-investigate-pushbacks-violence-borders
● Greece: Investigate Pushbacks, Collective Expulsions (Human Rights Watch, Juni 2020): https://www.hrw.org/news/2020/07/16/greece-investigate-pushbacks-collective-expulsions
● Greece Is Still Denying Migrant Pushbacks (Human Rights Watch, August 2020): https://www.hrw.org/news/2020/08/21/greece-still-denying-migrant-pushbacks
● UNHCR calls on Greece to investigate pushbacks at sea and land borders with Turkey (UNHCR, Juni 2020): https://www.unhcr.org/news/briefing-notes/unhcr-calls-greece-investigate-pushbacks-sea-and-land-borders-turkey
● Tents at Sea: How Greek Officials Use Rescue Equipment for Illegal Deportations (Just Security, Mai 2020): https://www.justsecurity.org/70309/tents-at-sea-how-greek-officials-use-rescue-equipment-for-illegal-deportations/
● Anhörung zu Fällen von Pushbacks am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte am 4. Juni 2024: https://www.echr.coe.int/w/chamber-hearing
Journalistische Berichterstattung und Recherche zu Pushbacks in Griechenland:
● Taking Hard Line, Greece Turns Back Migrants by Abandoning Them at Sea (NYT, August 2020): https://www.nytimes.com/2020/08/14/world/europe/greece-migrants-abandoning-sea.html?searchResultPosition=1
● EU mulls new system to check illegal pushbacks of migrants (EU Observer, Juli 2020): https://euobserver.com/migration/148878?utm_source=euobs&utm_medium=email
● Migrants accuse Greece of forced deportations (DW, Mai 2020): https://www.dw.com/en/migrants-accuse-greece-of-forced-deportations/a-53520642
● Video Shows Greece Abandoning Migrants at Sea (NYT, Mai 2023) https://www.nytimes.com/2023/05/19/world/europe/greece-migrants-abandoned.html
● Europe's Violent Shadow Army Unmasked (Spiegel International, Oktober 2021) https://www.spiegel.de/international/europe/greece-and-croatia-the-shadow-army-that-beats-up-refugees-at-the-eu-border-a-a4409e54-2986-4f9d-934f-02efcebd89a7
● Die griechische Küstenwache ließ Amjad mitten auf dem Meer zurück: „Sie betrachten uns als Monster“ (Danish Broadcasting Corporation, August 2020): https://www.dr.dk/nyheder/udland/den-graeske-kystvagt-efterlod-amjad-midt-paa-havet-de-ser-os-som-monstre#!/
● EU Border Officials Accused of Throwing Refugees into the Sea (Spiegel International, Februar 2022) https://www.spiegel.de/international/europe/death-in-the-aegean-eu-border-officials-accused-of-throwing-refugees-into-the-sea-a-19ba0711-eedb-4c10-82da-ca12f5e01936
Recherche zu den an Griechenland gezahlten EU-Geldern:
● Ombudsman asks Commission how it ensures EU funds for Greek border management do not contribute to fundamental rights violations (November 2023): https://www.ombudsman.europa.eu/fr/news-document/en/177828
● European Ombudsperson Opens Inquiry Into The Commission’s Administration Of EU Funding Used In Greece’s Illegal Expulsion Of Migrants (Legal Centre Lesvos, Dezember 2023): https://legalcentrelesvos.org/2023/12/07/european-ombudsperson-opens-inquiry-into-the-commissions-administration-of-eu-funding-used-in-greeces-illegal-expulsion-of-migrants/
Weiterführende Links:
● Aegean Boat Report: https://aegeanboatreport.com/
● Artikel Aegean Boat Report über den Fall Farmakonisi (23. Februar 2024): https://aegeanboatreport.com/2024/02/29/the-first-documented-pushback-from-the-greek-islands-since-the-pylos-shipwreck-amongst-them-10-palestinians-the-madnes-continue-in-greece/
● Datenbank von Forensic Architecture zu den „Drift Backs“ in der Ägäis: https://forensic-architecture.org/investigation/drift-backs-in-the-aegean-sea
● BVMN-Datenbank zu Abschiebungen in Europa: https://borderviolence.eu/testimonies/
● BVMN-Umfrage zu Abschiebungen, vorgelegt beim Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte (August 2023): https://www.ohchr.org/sites/default/files/documents/hrbodies/ced/cfis/short-term-disap/submission-short-term-ED-CED-WGEID-cso-bvmn-en.pdf
● Website der türkischen Küstenwache: https://en.sg.gov.tr/
● Website der griechischen Küstenwache: https://www.hcg.gr/en/
● Website Legal Centre Lesvos: https://legalcentrelesvos.org/
● Alarm Phone: https://twitter.com/alarm_phone
● Zahlen der Vereinten Nationen über in Griechenland angekommene Migranten: https://data.unhcr.org/en/situations/mediterranean/location/5179