Wir lernen die junge ukrainische Zahnärztin Katya Cholodnikowa im Mai 2023 kennen. Sie erzählt uns ihre Geschichte und die ihres Zwillingsbruders Andryj, Hauptmann im 2. Bataillon der 53. Mechanisierten Infanteriebrigade der ukrainischen Landarmee. Als Berufssoldat wird er zum Kampf gegen die russische Invasion in den ostukrainischen Donbass abkommandiert. Bis zum 13. März 2023 meldet er sich regelmäßig zuhause. An diesem Tag telefoniert er zum letzten Mal mit Katya. In den Wochen darauf antwortet Andryj nicht mehr, weder auf die Anrufe noch auf die SMS seiner Angehörigen. Obwohl er offiziell als an der Front verschollen gilt, ist sein Handy weiter aktiv. Bis Ende April 2022 weist ihn WhatsApp als „online“ aus. Seine Angehörigen verschaffen sich die Liste der Sendemasten, an die das Handy andockte.
Anhand dieser Daten können wir die Route des Handys rekonstruieren. Jeder Sendemast entspricht einem Schauplatz erbitterter Kämpfe, Ortskoordinaten und Zeitangaben sind kohärent. Sie entsprechen, wie wir dank zahlreicher Artikel der regionalen Presse nachprüfen können, dem russischen Vormarsch von Dorf zu Dorf in der fraglichen Zeitspanne: Wolnowacha, Wuhledar und Petriwka zwischen dem 13. und 25. März 2022, Polohy am 16. April, Huljaipole am 17. und schließlich Fedoriwka am 22. April.
Der Absender der ersten SMS an Katya – „Haben Sie Ihren Bruder begraben?“ – behauptet, er sei ein russischer Soldat, heiße „Timur“ und habe Andryj am 13. März 2022 mit einem Kopfschuss getötet. In der Dienstakte ihres Bruders findet Katya das gleiche Todesdatum, den 13. März 2022, und den Ort, an dem er gefallen ist: das Dorf Mykilske, Bezirk Wolnowacha, Region Donezk.
Um die Angaben nachzuprüfen, rekonstruieren wir den Ablauf der Kämpfe. Zahlreiche Presseartikel und Armeemitteilungen beider Kriegsparteien bestätigen, dass am 13. März mehrere Ortschaften der Zone, in der Andryjs Einheit kämpfte, in russische Hand gefallen sind, darunter das Dorf Mykilske.
Zur Identifizierung des russischen Soldaten, der Andryjs Handy benutzt hat, stützen wir uns auf die online verfügbaren Gesichtserkennungs-Apps search4faces.com et findclone.ru. Ausgangspunkt sind Screenshots seines Gesichts, die Katya während eines Videoanrufs gemacht hat. Sie erlauben uns, seine Spur im Web zu finden und ihm gehörende Konten in mehreren Sozialen Netzwerken auszumachen, hauptsächlich auf vkontakte.ru, dem russischen Facebook. Seine persönlichen Konten führen uns weiter zu denen von Verwandten: Eltern, Geschwister, Ehefrau und Freunde. Dort finden wir Hunderte Fotos, mit deren Hilfe sich sein gesamter Lebensweg nachzeichnen lässt, vom Kindergartenalter bis in den Schützengraben in der Ukraine. Um seine Anonymität zu wahren, geben wir die Links seiner Social-Media-Konten hier nicht an.
Auf einem der Fotos trägt Timur eine Uniform mit einem Abzeichen am rechten Arm. Eine umgekehrte Bildsuche auf Yandex Image und Google Image verrät uns die Einheit, der er angehört: das 291. Motorisierte Jäger-Regiment der russischen Landarmee. Alle Angehörigen dieser Truppe sind seit 2004 vertraglich in die russische Armee eingegliedert. Ihr Hauptquartier trägt die N°65384 und befindet sich im tschetschenischen Borzoi.
Weitere Belege bestätigen diese Information: Fotos von „Timur“ bei Übungsmanövern in Borzoi; von seiner Frau auf Instagram gepostete Fotos von Paketen, die sie ihm geschickt hat und auf denen „Timur“ als Empfänger sowie die Nummer der Militärbasis (N°65384) erscheinen. Zudem vergleichen wir Bilder aus den Sozialen Netzwerken mit denen von Soldaten der Einheit, um sicher zu gehen, dass die Basis tatsächlich in Borzoi liegt.
Anschließend stellen wir umfangreiche Recherchen an, um zu bestätigen, dass das 291. Motorisierte Jäger-Regiment tatsächlich in jener Zone im Einsatz war, in der Andryj gefallen ist. Ein Ansatz dazu ist die Suche nach Soldaten der Einheit, die in der gleichen Zeitspanne in der gleichen Zone gefallen sind. Anhand von Erinnerungsseiten Angehöriger in den Sozialen Netzwerken können wir ein Dutzend solcher Namen identifizieren – etwa den Oberstleutnant Dimitri Orekhow, gefallen am 12. März 2022 in Wuhledar, 8 Kilometer von Mykilske entfernt; oder Gamzalaev Djamal, im Kampf verschollen am 14. März 2022 in Egorowka, 10 Kilometer von Mykilske entfernt.
Zudem liefern uns Kollegen von der BBC, die zusammen mit der unabhängigen russischen Zeitung Mediazona und einer Gruppe von Freiwilligen seit Kriegsbeginn die russischen Verluste in der Ukraine beobachten, eine Liste von 44 Soldaten des 291. Regiments, die an der Front gefallen sind. Sie wurde anhand von Open-Source-Quellen erstellt und zeigt auch die Mortalitätskurve der Brigade: Der März 2022 gehört mit 14 Gefallenen zu den tödlichsten Monaten
Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums und der Militärgeheimdienste hat das 291. Regiment im Zuge des russischen Vormarschs auf Saporischschja und Mariupol 2022 Kriegsverbrechen begangen. Kiew hat eine namentliche Liste der verdächtigen Angehörigen des Regiments online gestellt.
Ein weiterer, wenn auch anekdotischerer Beleg für die Anwesenheit des 291. Regiments in der Ostukraine sind Briefe und Zeichnungen, die Schüler im Oktober 2023 an die Frontsoldaten geschickt haben.
Um an die Telefonnummern von „Timur“ und seiner Schwester zu kommen, benutzen wir einen Telegram-Bot, über den man in Russland gehackte Personendaten einsehen kann. Um sicher zu gehen, dass es sich um ihre Daten handelt, kreuzen wir mehrere Recherchen mit verschiedenen Elementen innerhalb der gleichen Datenbasis (Name und Vorname / Geburtsdatum / Username auf Vkontakte).
Schließlich suchen wir mithilfe von Satellitenbildern den exakten Ort, an dem Katyas Bruder Andryj begraben liegt. Ein von „Timur“ geschickter Screenshot und Informationen von jenem Dorfbewohner, der Andryj persönlich beerdigt hat, gestatten die exakte Lokalisierung seines Grabes. Auf Bitte von Katya und ihren Eltern, die befürchten, dass die Russen, die das Gebiet immer noch besetzt halten, die Spuren beseitigen könnten, halten wir diesen Ort geheim.
Katya konnte die Überreste ihres Bruders bislang nicht heimführen. „Timur“ antwortet nicht mehr auf unsere SMS.
Weitere, bei unseren Recherchen verwendete Links:
Verlautbarung der Präsidialkanzlei zur Dekoration ukrainischer Soldaten, aus der Katya erfahren hat, dass ihr Bruder gefallen ist und posthum ausgezeichnet wurde
Liste der Gefallenen der 53. Mechanisierten Infanteriebrigade der ukrainischen Armee
BBC-Zählung der russischen Verluste in der Ukraine
Soldtabelle der russischen Armee für neu angeworbene Rekruten in der Teilrepublik Tatarstan